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Lehren und Lernen unter neurodidaktischen/neuropädagogischen Aspekten

 

Schulmanagement-Tagung Schortens, 06.05. 2003

AG 4: "Müssen wir umlernen?" - Pädagogische Praxis und die 'neuropädagogischen' Hypothesen Gerhard Roths

Leitung: Ines Oldenburg u. Dirk Gerdes


Einführende Thesen zum Lehren und Lernen unter neurodidaktischen Aspekten
("Brain-Based Learning and Teaching")

Zusammenstellung: Ines Oldenburg / Dirk Gerdes

Kommentare: WorkshopteilnehmerInnen (AG 4)

 

1. "Wissen kann nicht (erg.: per "Instruktion" und "Informationsverarbeitung") übertra­gen werden; es muss im Gehirn eines jeden Lernenden neu geschaffen wer­den." (Roth 2002, 2)

Neuronale Grundlage: "Damit physikalische Ereignisse überhaupt als bedeutungstra­gende Zeichen, (...) er­kannt werden können, muss das Gehirn des Empfängers über ein entsprechen­des Vorwissen verfügen. (....) Bedeutungen können ... nicht vom Leh­renden auf den Lernenden übertragen, sondern müssen vom Gehirn des Lernenden konstruiert wer­den. (...) Existieren ein bestimmtes Vorwissen und ein bestimmter Be­deutungskontext nicht im Gehirn ...., so findet keine Bedeu­tungskonstruktion statt....." (Roth 2002, 2 f)

Didaktische Folgerung: Wissensvermittlung im Sinne des „Nürnberger Trichters“ er­möglicht kein Lernen: "Die ungeeignetste Lehr- und Lernmethode ist das Pauken, d.h. das simple Auswen­diglernen. Hierbei werden Gedächtnisnetzwerke durch bloße Wie­derholung von In­halten ausgebildet. Dies klappt immer, und zwar auch dann, wenn weder Lern­inter­esse noch Vorwissen vorhanden sind. Pauken und Auswendiglernen haben aber einen entscheidenden Nachteil, nämlich dass sie eine Variante des moto­rischen Ler­nens darstellen und nicht des semantischen, d.h. inhaltlich bedeutsamen Lernens. (...) Am wichtigsten ist also das Gegenteil von Pauken, nämlich das selb­ständige Durch­dringen des Stoffes. (....) Expertenwissen kann man sich anpauken, klug wird man nur durch hochgradige Vernetzung des eigenen Wissens." (Roth 2002, 9 f)

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet):

  • "Aus schulpraktischer Sicht bezweifeln wir, dass Bedeutungen nicht vom Lehren­den auf den Lernenden übertragen werden können!"
  • "Aus schulpraktischer Sicht erscheint es uns jetzt noch wichtiger, dass Schüler selbstständiger lernen sollen."

 

2. "Wissensaneignung beruht auf Rahmenbedingungen und wird durch Faktoren ge­steuert, die unbewußt ablaufen und deshalb nur schwer beeinflussbar sind." (Roth 2002, 2)

Neuronale Grundlage: "Die unbewußt ablaufenden Prozesse der Bedeutungs- oder Wissenskon­struk­tion sind von vielen Faktoren abhängig, von denen die meisten durch ein System vermittelt werden, das in der kognitiven Psychologie lange Zeit überhaupt nicht exi­stierte, näm­lich das limbische System, das Affekte, Gefühle und Motivation vermittelt und hierüber der eigentliche Kontrol­leur des Lernerfolgs ist. (...) das zen­trale Bewer­tungssystem unseres Gehirns." (Roth 2002, 4)

Didaktische Folgerung: "Faktoren, die beim Lehren und Lernen eine wichtige Rolle spielen, sind vor­nehmlich folgende:
1. Die Motiviertheit und Glaubhaftigkeit des Lehrenden
2. Die individuellen kognitiven und emotionalen Lernvoraussetzungen der Schüler
3. Die allgemeine Motiviertheit und Lernbereitschaft der Schüler
4. Die spezielle Motiviertheit der Schüler für einen speziellen Stoff, Vorwissen, und der aktu­elle emotionale Zustand
5. Der spezifische Lehr- und Lernkontext" (Roth 2002, 5).

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet):

  • "Aus schulpraktischer Sicht erscheint es uns jetzt noch wichtiger, dass Lernpro­zesse so organisiert werden, dass die individuellen Voraussetzungen genutzt und angeregt werden können."
  • "... dass das Lernen entsprechend organisiert wird (Stundenpläne, Fächerkanon, Personalressoucen)."
  • "Aus schulpraktischer Sicht bezweifeln wir, dass Rahmenbedingungen nicht doch so be­einflusst werden können, dass Lernprozesse in Gang gesetzt werden."
  • "... dass individueller Unterricht bei großen Klassen bis 28 Schüler möglich ist. Das heißt, Auflösung des Klassenverbandes hin zu homogenen Lerngruppen und Auf­brechen des 45-Min-Taktes."
  • "... dass.die Faktoren zur Wissensaneignung nur schwer beeinflussbar sind! Rolle des Lehrers, der Medien, des Klimas..."
  • "...dass die u. E. sinnvollen Thesen schulpolitisch berücksichtigt werden, z.B.: zu frühe Festlegung der Schullaufbahn."

 

3. Schüler müssen die Möglichkeit erhalten, nach ihren individuellen Begabungen zu lernen.

Neuronale Grundlage: Menschen werden nicht mit gleichen Lernvoraussetzungen geboren. Die kognitiven Rahmenbedingungen sind als Potenzial genetisch vorgege­ben (Friedrich & Preiss, 70). Jedes Kind hat seine eigenen Lernmuster und seine eigene Lern­biogra­phie; Kinder erwerben bestimmte Fähigkeiten in jeweils unter­schiedlichem Alter, haben angeborene individuelle Stärken und Schwächen.
Didaktische Folgerung: „Neurodidaktisch idealer Unterricht passt die fachlichen Inhalte an die indivi­duellen Kompetenzen an.“ (Friedrich & Preiss, 70). Pädagogen haben die Aufgabe, die Stärken der Kinder herauszu­finden und ihnen Aufgaben zu geben, die ihre Neu­gierde wecken und ihnen Freude machen („Kompetenzpädagogik“).

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet):

  • "Aus schulpraktischer Sicht erscheint es uns jetzt noch wichtiger, dass individuelle Begabungen und Voraussetzungen stärker berücksichtigt werden (Binnendifferen­zie­rung)."
  • "... dass frühzeitig verarbeitungsfähige Strukturen beim Kind entstehen."
  • "... dass die Individualität eines jeden Kindes im Mittelpunkt steht und differenziert im Unter­richt darauf eingegangen wird."
  • "Aus schulpraktischer Sicht bezweifeln wir, dass es uns gelingt, Schülern die Möglich­keit zu geben nach ihren individuellen Begabungen zu lernen. Wissen wird von jedem Individuum anders verarbeitet."

4.  Emotionen spielen bei der Gedächtnisbildung eine entscheidende Rolle.

Neuronale Grundlage: Zuständig für die Emotionen ist im Gehirn das limbische Sys­tem, das die ganze Band­breite von Gefühlszuständen ermöglicht. Jedes von den Sinnesorganen eintreffende Signal gelangt in diesen Gehirnteil parallel zum Weg des Signals zur Großhirnrinde. Noch bevor das Bewusstsein Einfluss nehmen kann, be­wertet das limbische System die eingehenden Signale, entscheidet darüber, welche Reize wich­tig und wertvoll sind. Auf dem Weg über die Großhirn­rinde werden die Reize mit frühe­ren Erfahrungen verglichen und gelangen ins Bewusstsein. Gefühle können „Lernen fördern, indem sie die Aktivität neuronaler Netze intensivieren und ihre synaptische Verschaltung stärken. Informationen, denen das limbische System einen emo­tionalen Stempel aufgedrückt hat, graben sich besonders tief ins Gedächt­nis ein – und beson­ders dauerhaft.“ (Friedrich & Preiss, 68). Emotional gefärbte In­formationen gelangen leichter ins Langzeitge­dächtnis, bleiben aber auch abrufberei­ter (ebd., 68).
Didaktische Folgerung: Lernstoffe, die einen emotionalen Inhalt haben, lernen sich am besten. Wo das nicht möglich ist – z. B. bei abstrakten mathematischen Stoffen - , fördert dennoch eine gefühlsmä­ßig angenehmes Lernumfeld die Lernleistung. Es weckt die Neugier und stärkt die Motivation der Schüler. Solange man einem Stoff „neutral“, distanziert gegenübersteht, ist der Aufwand sehr hoch, etwas davon im Ge­dächtnis zu behalten. „Erst Gefühle verwandeln das Geschehen im Klassenzimmer in persönliches Erleben, da dann die Lerninhalte den einzelnen Schülern etwas bedeu­ten. Als Folge stellt sich auch der Lernerfolg schnell ein ...“ (Friedrich & Preiss, 69). "Lerninhalte, die in schäbi­gen Klassenzimmern, in einer konfliktträchtigen und furcht­einflößenden Umgebung von lustlosen Lehrern vermittelt werden, haben .... eine ge­ringe Chance, dauerhaft im Gedächtnis verankert zu werden." (Roth 2002, 10)

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet):

  • "Aus schulpraktischer Sicht erscheint es uns jetzt noch wichtiger, dass die emotio­nale Seite des Vermittlungsprozesses in der Lehreraus- und fortbildung verstärkt bewusst gemacht werden muss."
  • "... dass.eine positive emotionale Lernatmosphäre auch an weiterführenden Schu­len hergestellt wird."
  • "... dass Schüler auch auf der emotionalen Ebene stark angesprochen werden."
  • "Aus schulpraktischer Sicht bezweifeln wir, dass in diesen „neuen“ Thesen die Um­welt- und sozialen Bedingungen genügend berücksichtigt werden."
  • "... dass eine „kuschelige“, d.h. eine emotional entspannte, Lernatmosphäre das Lernen behindert."

5.  „Wer aufmerksam ist, der lernt auch mehr“ (Spitzer, 146)

Neuronale Grundlage:„Lernen bedeutet Modifikation synaptischer Übertragungs­stärke. Solche Mo­difikation findet nur an Synapsen statt, die aktiv sind. Je aktiver neuronales Gewebe in einem bestimmten Bereich der Gehirnrinde ist, desto eher findet in ihm Veränderung von Synapsenstärken und damit Lernen statt. (...) Die Auf­merksamkeit auf einen be­stimmten Ausschnitt dessen, was gerade unsere Sinne erregt, bewirkt die Aktivierung genau derjenigen neuronalen Strukturen, die für die Verarbeitung eben dieses Aus­schnitts zuständig sind“ (Spitzer, 146).

Didaktische Folgerung: „Gelernt wird nur in den Phasen ununterbrochener Aufmerk­samkeit. Wer „wegdriftet“, sollte Zeit bekommen, wieder zurückzukommen“ – Lernen im 45-Minuten-Takt ist neurodidaktisch nicht sinnvoll (Ingendahl, 11).

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet): Keine

 

6.   Die Aufmerksamkeit kann nur schlecht auf zwei Dinge gleichzeitig gerichtet werden.

Neuronale Grundlage: Aktivität in einem neuronalen Netzwerk hemmt Aktivitäten in einem anderen.
Didaktische Folgerung: "Im Unterricht sollte man nicht wiederholt zwischen zwei verschiedenen The­men hin- und herwechseln. Kinder brauchen Zeit, um sich einer Sache konzentriert widmen zu können." (Friedrich & Preiss, 69)

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet): Keine

 

7.   Informationen bleiben desto besser im Langzeitgedächtnis haften, je mehr Sinnesorgane beim Lernen beteiligt sind.

Neuronale Grundlage: „Da alle Neurone gleichermaßen über elektrische Impulse mit­einander kom­munizie­ren, ist es gleichgültig, ob sie durch Sehen, Fühlen, Hören, Be­wegen oder bloßes Nachdenken aktiviert werden.“ (Friedrich & Preiss, 69)

Didaktische Folgerung: Schon Pestalozzi wusste vom Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“.

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet):

  • "Aus schulpraktischer Sicht erscheint es uns jetzt noch wichtiger, dass viele Sinnesor­gane beim Lernen beteiligt sind und dass dafür mehr Personal, Zeit, ge­eignete Räume zur Verfügung stehen müssen."
  • "Aus schulpraktischer Sicht bezweifeln wir, dass die Hirnforschung die Problematik der „veränderten Kindheit“ (Medien, Familie etc.) genügend bearbeitet."

 

8.   „Lernen kann ... nur gelingen, wenn das Gehirn verarbeitungsfähige Strukturen anzubieten hat. Je mehr ansprechbare Erfahrungen vorhanden sind, desto mehr kann gelernt werden. Es werden neue Beziehungen zwischen vorhandenen Wissenselementen geknüpft oder verstärkt.“ (Ingendahl, 4)

Neuronale Grundlage: „Jede neue Situation wird im Lichte der vergangenen Erfahrung bewertet, und das Ergebnis wird zur alten Erfahrung hinzugefügt. Es wird dabei das­jenige bevorzugt angeeignet, was in das Vorhandene gut hineinpaßt (...)“ (Roth 2000, 2). Hat der Hip­pokampus eine Sache als neu und interessant bewertet, dann macht er sich an ihre Speicherung, indem er eine neuronale Repräsentation von ihr ausmacht.

Didaktische Folgerung: „Alles neu zu Lernende muss bei jedem Schüler an Bekann­tem festgemacht werden, denn Lernen besteht in der Veränderung und Bereicherung dieses Bekann­ten, - aber nur dann, wenn ihm auch wirklich Neues angeboten wird.“ (Ingendahl, 11). Aber in der Schule geht es nicht nur um einzelne Fakten als Neuig­keiten, sondern dort werden „weit mehr als nur einzelne Ereignisse“ gelernt. „Daher muss der Lehrer auch keineswegs von einem Event zum nächsten noch neueren Event hechten, um seine Arbeit gut zu machen“ (Spitzer, 35).

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet):

  • "Aus schulpraktischer Sicht erscheint es uns jetzt noch wichtiger, dass frühzeitige ver­arbeitungsfähige Strukturen beim Kind entstehen."

 

9.    “Lernen muss über längere Zeit verstärkt werden“ (Ingendahl, 4)

Neuronale Grundlage: „Dopamin gehört zu den Botenstoffen des Gehirns“ (Spitzer, 195) und hat wesentlichen Einfluss auf die Bewertung von Reizen, die ständig auf uns „einpras­seln". Dopamin "verleiht den Dingen und Ereignissen um uns herum ih­ren Sinn, ihre Bedeutung-für-uns. Bedeutsam ist, was neu ist (...), was  für uns gut ist und vor allem, was für uns besser ist, als wir zuvor erwartet hatten. (....) Studien zei­gen, dass es uns süchtig machen kann, aber auch, dass ein netter Blick oder ein nettes Wort zu seiner Aktivierung führen“ (ebd.).

Didaktische Folgerung: Schüler und Lehrer brauchen Ermutigung und Lob im Sinne der Installation einer „Kultur der Anerkennung“ (Reinhard Kahl 2002) an unseren Schulen. Solche Prozesse brauchen Zeit!

Kommentare aus der Schulpraxis (im Workshop erarbeitet): Keine

 

Diese Thesen und jeweiligen Kommentare wurden unter Verwendung

  • eines Vortragsmanuskripts von  Gerhard Roth zum Thema "Warum sind Lehren und Lernen so schwierig?" vom 20.06.2002 (Bremen) und
  • seines am 25. 01. 2000 gehaltenen Vortrags im Niedersächsischen Landtag mit der Fragestellung „Warum ist Einsicht schwer zu vermitteln und schwer zu befol­gen?“,
  • einer Internet-Rezension von Ulrich Bubenheimer zu Friedrich, Gerhard; Preiss, Gerhard (2002): Lehren mit Köpfchen. In: Gehirn & Geist, Jg. 2002, Nr. 4, 64-70, so­wie zum u.a. Buch von Manfred Spitzer,
  • des Buches von Manfred Spitzer: Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg 2002,
  • eines Aufsatzes von Werner Ingendahl :"'Lernen' in der Hirnforschung", in: Schulmaga­zin 5-10, Heft 3/1998, 5-11,
  • sowie der Ergebnisse der AG 4 der Schulmanagementtagung Schortens 2003

zusammengestellt.