Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.
"Nationale Minderheiten" in Deutschland (2008)
 
 
Für Inhalte der im folgenden Text verlinkten Seiten wird keine Verantwortung, Haftung etc. im Sinne der geltenden Rechtsprechung übernommen.


Zentralinstitut für Regionalforschung an der Universität Erlangen  
Expertentagung:
Föderalismus in Deutschland und gesellschaftliche Vielfalt
Bildungszentrum Kloster Banz, 26. - 28. Februar 2008
 
Dirk Gerdes, Universität Heidelberg:
Anmerkungen zur Verortung der Friesen, Dänen und Sorben als „nationale Minderheiten“ in Deutschland
 
 
Einleitung: Minderheitenpolitik und regionale Parteienkonkurrenz
 
Bei den Wahlen zum Niedersächsischen Landtag am 27. Januar 2008 trat mit der aus dem "Friesischen Forum" hervorgegangenen Partei „Die Friesen“ erstmalig in der Geschichte der friesischen Bewegung auch in Ostfriesland eine ethnisch argumentie­rende Regionalpartei an. Sie errang in den fünf ostfriesischen Wahlkreisen mit einer deutlichen Hochburg im grenznahen Rheider­land (Bunde: 8,9 %, Weener: 8,7 % Erststimmen) auf Anhieb 2,32 % der regionalen Zweitstim­men.
 
Gegen das ihr gleichwohl drohende Verschwinden in der Rubrik „Sonstige“ der lan­desweiten Wahlstatistik mobilisierten „Die Friesen“ schon wenige Tage nach der Wahl die regionale Presse mit der Ankündigung einer Wahlanfechtung: „Als Partei einer nationalen Minderheit dürften sie nicht der Fünf-Prozent-Klausel unterworfen werden“ (Ostfriesen Zeitung, 5. Februar 2008). Die Ablehnung eines entsprechenden Antrages habe ihre Wahlchancen bei ihren Anhängern massiv geschmälert.
 
Aus dem für innenpolitische Grundsatzfragen des Minderheitenschutzes zuständigen Bundesinnenministerium kam - groß aufgemacht in der regionalen Presse - post­wen­dend die Antwort, dass die Ostfriesen keine „nationale Minderheit“ seien. Unter­stützt wurde das Innenministerium zudem aus der Region von zwei Repräsentanten Ost­frieslands, von denen dies Außenstehende kaum erwarten würden: Vom derzeitigen Präsidenten der Ostfriesischen Landschaft und früheren SPD-MdL Coll­mann sowie vom Präsidenten des Interfriesischen Rates1), dem eben gescheiterten ostfriesischen CDU-Landtagskandidaten und Kollegiums­mitglied der Ostfriesischen Landschaft, Dieter Baumann. Beide erklärten auf die Frage, ob die Partei „Die Friesen“ für sich in Anspruch neh­men könne, „für die Friesen als Volksgruppe zu sprechen“, parteiüber­greifend und übereinstimmend, dass Ostfriesland keine Minderheiten- bzw. Regional­partei brau­che, da sie „die Interessen Ostfrieslands in Hannover (erg.: durch CDU und SPD) für sehr gut vertreten“ (OZ, a.a.O.) hielten.
 
Widerspruch gegen die Feststellung des Bundesinnenministeriums, die Ostfriesen seien keine "nationale Minderheit", erhoben dagegen beide nicht – dies, obwohl die Geschäftsstelle des Interfriesischen Rates seinerzeit bei der Ostfriesischen Landschaft angesiedelt war und Baumann gerade zwei Jahre vorher, am 5. Mai 2006, auf der Mitgliederversammlung des Interfriesischen Rates in Leck, Nordfriesland, eine dazu im direkten Widerspruch stehende Interfriesische Er­klärung unterzeichnet hatte, in der sich auch die Ostfriesen eindeutig dem Europäischen Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten unterstellt hatten:
   
„Unter Berücksichtigung der gemeinsamen Geschichte der drei Frieslande, in Anerkennung des Willens der Friesen über staatliche Grenzen hinweg in einem gemeinsamen Europa ihre eigene Sprache und Kultur und somit ihre Identität auch in Zukunft zu erhalten, im Bewusst­sein, dass das Bekenntnis zum friesischen Volk frei ist, unter Berücksichtigung, dass in Westfriesland, Nordfriesland und im Saterland die friesische Sprache sowie in Ostfriesland das Niederdeutsche im Mittelpunkt der kulturellen Arbeit steht, in Übereinstimmung mit dem Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten und der Eu­ropäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen und unter Berufung auf das Friesische Manifest aus dem Jahre 1955, erklären wir im Interfriesischen Rat vertretenen Friesen: 
Wir gehören mehr als einem Staat an, fühlen uns aber über alles Trennende hinweg als An­gehörige eines Volkes, gewohnt und gewillt, unsere eigene Sprache zu pflegen und auszu­bauen. (…)“ (vgl.www.interfriesischerrat.de).
 
Im Sinne dieser Deklaration hätten beide Repräsentanten Ostfrieslands zudem den An­spruch der „Friesen“-Partei aktiv unterstützen oder zumindest tolerieren müssen, da das „Bekenntnis zum friesischen Volk frei ist“: Alle Minderheiten in Deutschland leh­nen es in Übereinstimmung mit dem in der Deklaration zitierten Rahmenübereinkommen des Europarates von 1995 grundsätzlich ab, dass ein solches Bekenntnis auf Repräsen­tativität geprüft oder seine Legitimität von der Größe einer Minderheit abhängig ge­macht wird (vgl. Anm. 8).
 
Dieses offenkundige Lavieren der beiden Parteipolitiker zwischen parteipolitischer Konkurrenz und regionaler Minderheitenpolitik führt unmittelbar in das Zentrum der Minderheiten-Problematik der Friesen, Dänen und Sorben, die darzustellen dem Verfasser von den Organisato­ren dieser Tagung aufgegeben wurde. Ausgespart bleibt bei dieser Darstellung die ebenfalls unter den Schutz des Rahmenübereinkommens des Europarates gestellte Volksgruppe der Roma und Sinti.
 
Im ersten Teil gehe ich zunächst auf die rechtlichen Grundlagen des Minderheiten­schutzes in der Bundesrepublik ein. Ich beschränke mich dabei auf die Darstellung von drei, für die genannten Minderheiten beson­ders wichtigen oder umstrittenen As­pekten, die im Zusammen­hang mit dem 1995 verabschiedeten und 1998 in Kraft ge­tretenen Rahmenüberein­kommen des Europarates diskutiert werden.
 
Im zweiten Teil steht die Übersetzung dieser rechtlichen Grundlagen in konkrete Po­litik, also die aktuelle Situation der genannten Minderheiten in Deutschland, im Mit­telpunkt. Hier werden auch die eben genannten Widersprüche näher beleuchtet.
 
Abschließend sollen weiterführende Überlegungen zu einem zeitgemäßen Minder­heitenschutz angestellt werden.
 
 
1.   Aktuelle Problemfelder des Minderheitenschutzes in Deutschland 
 
1.1  Fehlende internationale Verbindlichkeit der Minderheiten-Definition: enge oder weite Fassung des Minderheitenbegriffs?
 
Das am 1. Februar 1995 im Straßburger Europarat unterzeichnete Rahmenüberein­kommen zum Schutz nationaler Minderheiten enthält, wie alle einschlägigen interna­tionalen Konventionen, keine explizite, Kollektivrechte begründende Definition des Begriffs „nationale Minderheit“.
 
Nach dem Vorbild der UNO-Declaration on the Rights of Persons Belonging to Na­tional or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities vom 18. Dezember 1992 benennt das Rahmenübereinkommen aber ebenfalls Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, indem es, zum Beispiel in Artikel 17, „Angehörigen nationaler Minderheiten“ das Recht zugesteht, ungehindert und friedlich Kontakte über Gren­zen hinweg zu Personen herzustellen und zu pflegen, die sich rechtmäßig in anderen Staaten aufhalten, insbesondere zu Personen mit derselben ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Identität oder mit demselben kulturellen Erbe.“
 
Dieser weit gefassten, enumerativen Definition der (alternativ jeweils zureichenden) Identitätsmerkmale von Angehörigen nationaler Minderheiten setzte die Bundesre­publik Deutschland im Zuge des ersten Monitoring-Durchgangs eine wesentlich en­gere, traditionell orientierte Minderheiten-Definition entgegen, indem sie „hinsichtlich der Anwendung des Abkommens auf die in Frage kommenden Gruppen eine Fest­stellungskompetenz in Anspruch“ nahm:
 
„Deutschland sieht als nationale Minderheiten Gruppen der Bevölkerung an, die fol­genden fünf Kriterien entsprechen:
-      ihre Angehörigen sind deutsche Staatsangehörige,
-      sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk durch eigene Sprache, Kultur und Ge­schichte, also eigene ldentität,
-      sie wollen diese ldentität bewahren,
-      sie sind traditionell in Deutschland heimisch,
-      sie leben hier in angestammten Siedlungsgebieten.
Mit dieser Anwendung des Übereinkommens auf die Dänen, Friesen, Sorben und Sinti und Roma ist zugleich die Anwendung auf sämtliche traditionell in Deutschland heimischen Volksgruppen sichergestellt.“2)
 
Diese amtliche deutsche Minderheiten-Definition entspricht in ihrer Betonung des Gruppenbe­zugs und der traditionellen Heimatgebundenheit dieser Gruppen sowie in der Her­vorhebung des voluntaristischen Elements der bewussten Identitätsbewah­rung weit­gehend der Definition von sog. „autochthonen, nationalen Minderheiten/Volksgruppen“ durch die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV), zuletzt in der Charta der autochthonen, nationalen Minderhei­ten/Volksgruppen in Eu­ropa, die 2006 in Bautzen verabschiedet wurde.
 
Die Kumulation sprachlicher, kultureller und geschichtlicher Identitätsmerkmale sowie das Kriterium der traditionellen Heimatgebundenheit in „angestammten Siedlungsge­bieten“ schließen die Anwendung des Rahmenübereinkommens auf „Migranten“ aus. Dass dies politisch gewollt ist, zeigen die bis heute andauernden, z. T. sehr hart und unverblümt formulierten Auseinandersetzungen zwischen der Bundesrepublik und dem Europarat über dessen im Rahmen des vereinbarten Monitoringverfahrens (nach Abschnitt IV des Rahmenübereinkommens) wiederholt formulierte Vorstöße, das Rahmenübereinkommen oder Teile davon auch für Minderheitengruppen mit Migrationshintergrund zu öffnen. 
 
Die Bundesrepublik sieht die bürgerlichen, politischen, sozialen und kulturellen Rechte sowohl von deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund als auch von Migranten ohne deutsche Staatsangehörigkeit durch die einschlägigen internati­onalen Konventionen (z.B. Artikel 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen), durch das Grundgesetz sowie durch das reformierte Staatsangehörigkeitsrecht als gesichert an3).
 
 
1.2   Minderheitenschutz: Individual- oder Gruppenrecht?
 
Die seit Jahrzehnten umstrittene Frage, ob Minderheitenschutz als Unterfall der All­gemeinen Menschenrechte nur individualrechtlich einzufordern sei oder einer Erwei­terung auf Gruppenteilrechte oder Gruppenrechte bedürfe (vgl. Gerdes 1980a), kennzeichnete auch einen Großteil der Konflikte bei der Ausarbeitung des Rahmen­übereinkommens.
 
Im Artikel 3 wurde - ebenfalls in Anlehnung an die oben zitierte UNO-Deklaration von 1992 - ein Kompromiss gefunden zwischen einer strikt individualrechtlichen Fassung des Minderheitenschutzes und einer vorsichtigen Konzession an die Forderung der traditionellen Volksgruppenbewegung nach Einräumung expliziter Gruppenrechte.
 
In Abschnitt 1 heißt es zunächst:
„Jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, hat das Recht, frei zu entscheiden, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht; aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte dürfen ihr keine Nachteile er­wachsen.“
 
Und Absatz 2 unterstreicht schließlich:
„Angehörige nationaler Minderheiten können die Rechte und Freiheiten, die sich aus den in diesem Rahmenübereinkommen niedergelegten Grundsätzen ergeben, einzeln sowie in Gemeinschaft mit anderen ausüben und genießen.“
 
Die eingangs zitierte Interfriesische Erklärung vom 5. Mai 2006 nimmt diese Individu­alisierung von Minderheitenrechten in der Betonung des Grundsatzes auf, „dass das Bekenntnis zum friesischen Volk frei ist.“ Diese Betonung der individuellen Bekennt­nisfreiheit hat in Schleswig-Holstein schon Tradition: Sie wurde der dänischen Min­derheit bereits in der Kieler Erklärung vom 26. September 1949 zugestanden.
 
Ihre Übernahme in ein Manifest einer der Volksgruppenbewegung bzw. der FUEV nahe stehenden Minderheit ist je­doch ein Anzeichen dafür, dass sich die ursprünglich konträr gegenüberstehenden Positionen von individualrechtlich argumentierenden Menschenrechtlern und von überwiegend essentialistischen Gemeinschaftsvorstellungen verpflichteten Volks­gruppentheoretikern inzwischen angenähert haben.
 
Noch 1970 definierte die FUEV eine Volksgruppe (frz.: Communauté Ethnique) als "volkliche Ge­mein­schaft, die durch Merkmale wie eigene Sprache, Kultur oder Tradi­tionen gekenn­zeichnet ist. Sie bildet in ihrer Heimat keinen Staat oder ist außerhalb des Staates ihrer Nationa­lität beheimatet (nationale Minderheit)." (Straka (Hg.) 1970: 34). Minderheiten sind in dieser Sichtweise „Gemeinschaften“, in die ein Indi­viduum nur als auswechselbarer Träger gemeinschaftlicher Attribute (Guy Héraud: „Ethno­typ“) hineingeboren wird, die also eine überindividuelle Legitimation und Existenz genießen (Héraud: „fait national“). Und es war sicherlich kein Zufall, dass ein prominen­ter Repräsentant der FUEV vor diesem Hintergrund in unheilvoller Konti­nuität zur Volks­gruppenbewegung der Zwi­schenkriegszeit auch 1977 noch in erbitterter Geg­nerschaft zu individuellem Assimilantentum und Volksverrat von Renegatentum spre­chen konnte. (Veiter 1977: 186. Vgl. Gerdes 1980b: 6 f; Salz­born 2005: Kap. 5).
 
Für eine solche Position gab es in der Tat keinen Brückenschlag zu menschenrecht­lichem Denken: Menschenrechte sind traditionellerweise Schutzrechte gegen­über einem Kollektiv, nicht aber Existenzgarantien für ein Kollektiv gegen seine Mit­glieder. Wenn Begründungsmerkmale von Gruppen zum Thema menschenrechtlicher Schutzbemü­hungen wurden, dann nur insofern, als individuelle Diskriminierung auf­grund askriptiver (ethnischer, religiöser, sprachlicher) Merkmale ausgeschlossen werden sollte.
 
Im Grundsatz gilt dieses Prinzip bis heute, obwohl Kritiker wie Salzborn einen be­denklichen „Trend weg von einem menschenrechtlichen, individualrechtlichen An­satz, der individuelle Identitätsangebote wahrzunehmen ermöglicht, statt kollektiv völkischen Identitätszwang zu verordnen und Abweichungen zu sanktionieren“ (Salzborn (Hrsg.) 2006: 18), auszumachen glauben.
 
Die Diskussion über die romantisch-essentialistische Volkstumsmythologie der älte­ren Volksgruppen­bewegung und ihre problematische Erbschaft gewann bekanntlich schon vor drei Jahrzehnten mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der neueren re­gionalistischen Be­wegungen in Westeuropa neue Aktualität.
 
Die seinerzeit von mir bereits im Detail nachgezeich­nete konzeptio­nelle Ver­knüpfung der (süd-)westeuropäischen Regionalisierungs- und Föderalisie­rungsdiskus­sion mit der (ost-)mitteleuropäischen Volksgruppen- und Minder­heitenprob­lematik (Ger­des 1980b, 1985: 81ff) weckt heute angesichts einer fortschrei­tenden „Eth­nisierung der Poli­tik“ (Salzborn 2005) immer wieder neu genährte Befürchtungen und Vorbe­halte.
 
 
1.3  Schutz oder Förderung?
 
Vor dem Hintergrund der traditionellen Forderung nach einem „Fördernden Nationa­litätenrecht“ können die Verpflichtungen aus Artikel 5 des Rahmenübereinkommens als Durchbruch gegenüber dem herkömmlicher Weise in internationalen Konventio­nen vorherrschenden individualrechtlichen Schutzprinzip4) gesehen werden:
 
1.              „1. Die Vertragsparteien verpflichten sich, die Bedingungen zu fördern, die es Angehöri­gen nationaler Minderheiten ermöglichen, ihre Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln und die wesentlichen Bestandteile ihrer Identität, nämlich ihre Religion, ihre Sprache, ihre Traditionen und ihr kulturelles Erbe, zu bewahren.

2. Unbeschadet der Maßnahmen, die im Rahmen ihrer allgemeinen Integrationspolitik getroffen werden, sehen die Vertragsparteien von Zielsetzungen oder Praktiken ab, die auf die Assimilierung von Angehörigen nationaler Minderheiten  gegen deren Willen gerichtet sind, und schützen diese Personen vor jeder auf eine solche Assimilierung gerichteten Maßnahme."
 

Die Artikel 10 und 14 des Rahmenübereinkommens ergänzen diese Verpflichtungen durch die Spezifikation der aus Sicht der traditionellen Volksgruppenbewegung ent­scheidenden Rechte auf öffentlichen Gebrauch und schulische Vermittlung der Min­derheitensprachen5). Restriktiv wirken in diesen beiden Artikeln insbesondere die Formulierungen, die die Gewährung sprachlicher Rechte in Verwaltung und Schule von einer expliziten Nachfrage und von bestehenden Möglichkeiten und Kapazitäten des Bildungssystems abhängig machen.

 
Gerade in diesen beiden Feldern der sprachlichen Rechte sind nun allerdings die meisten Konflikte zu verzeichnen, die staatlicherseits zugleich eher auf ein Fortwir­ken ei­nes nur duldenden Schutzprinzips hinweisen. Unterstrichen wird dieser Ein­druck durch kleinliche Formulierungen, in denen beispielsweise das Bundesinnenmi­nisterium in der bereits erwähnten Stellungnahme von 2002 „die Aufstellung von Hinweisschildern auf sorbische Sprachkenntnisse bestimmter Verwaltungsmitarbeiter … zurückhaltend betrachtet.“ Ziel sei es, „einen bereits vorhandenen Bedarf nach Benutzung der sorbischen Sprache im Umgang mit Verwaltungsbehörden zu decken, nicht aber, einen solchen gar nicht vorhandenen Bedarf erst zu wecken.“
 
Damit komme ich zum zweiten Teil meines Referats.
 
 
2.     Das europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationa­ler Minderheiten und die deutsche Verfassungswirklichkeit
 
Das in Abschnitt IV des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderhei­ten vereinbarte Monitoring-Verfahren wurde für die Bundesrepublik nach Inkrafttreten des Übereinkommens 1998 durch einen 1999 dem Europarat übermittelten ersten Staatenbericht in Gang gesetzt. Das vom Ministerkomitee eingesetzte Experten- und Gutachtergremium, der sog. „Beratende Ausschuss“, kommentierte daraufhin diesen Staaten­bericht auf der Basis eigener Recherchen in einer Stellungnahme. Auf diese Stellungnahme antworteten wiederum die Bundesrepublik Deutschland unter Feder­führung des Bundesinnenministeriums sowie, was international als vorbildlich gilt, auch die Dachorganisationen der natio­nalen Minderheiten6) in ausführlicher Kom­mentierung. 
 
Nach dem gleichen Verfahren folgte auf den zweiten Staatenbericht der Bundesre­publik Deutschland von 2005 der zweite Monitoringzyklus, der 2007 mit einer Zu­sammenstellung aller Kommentare von Bund, Ländern und Minderheitenorganisatio­nen durch das Bundesinnenministerium, dies wiederum in Reaktion auf die Stellung­nahme des Beratenden Ausschusses vom 1. März 2006, beendet wurde.
 
Auch hier wurden wieder die schon im ersten Zyklus einbezogenen Dachorganisatio­nen der Minderheiten beteiligt - allerdings mit der Ausnahme der Friesenratssektion Ost, da die Ostfriesen auf das Mitwirkungsangebot des ersten Zyklus nicht reagiert hatten. Offenkundig fehlten ihren Repräsentanten 2002 noch die Ein­sichten, die dann im Mai 2006 zu der eingangs zitierten, von den Vertretern aller drei Fries­lande unter­zeichneten Interfriesischen Erklärung führten. Zu diesem friesischen Sonder­problem müssen vorweg noch ein paar ergänzende Anmerkungen gemacht werden.
 
 
2. 1   Friesen und Ostfriesen
 
Wie einleitend erwähnt, gelten dem für die Umsetzung des europäischen Rahmen­übereinkommens in der Bundesrepublik zuständigen Bundesinnenministe­rium nur die Nord- und Saterfriesen als nationale Minderheiten im Sinne des Rahmen­überein­kommens, vergleichbar dem Status der sogenannten westlauwersschen Frie­sen oder kurz „Westfriesen“ in den Niederlanden. Der schon semantisch kaum nach­vollzieh­bare Ausschluss der Ostfriesen aus dem Geltungsbereich des Minderheiten­schutzes für die Friesen hat allerdings eine lange Vorgeschichte (vgl. dazu Steensen 2001; Steensen et al., 2006), in der sich die Ostfriesen selbst im­mer wieder nur unter Vorbehalten dem ethnischen Selbstverständnis der Nord- und Westfriesen annäherten, dies, obwohl sich das mythologisierte Symbol der Friesi­schen Freiheit, der Upstalsboom, in Aurich befindet. Und da der erkennbare Wille einer Minderheit, sich in ihrer Identität zu behaupten, Voraussetzung ihrer Anerken­nung ist, waren diese Vorbehalte immer wieder der Beleg für die amtliche Nichtaner­kennung der Ostfriesen als nationale Minderheit. Insofern ist die gegenwärtig ausge­tragene Kontroverse über den Minderheitenstatus der Ostfriesen symptomatisch: Wenn die Repräsentanten der Ostfriesen diesen Status mit allen seinen Rechten nicht beanspruchen, wird das Bundesinnenministerium kaum zu einer gegenteiligen Rechtsauffassung kommen.
 
Die bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende friesische Bewegung in West- und Nordfriesland bezog ihr Sonderbewusstsein vor allem aus dem Fortbestehen der Frie­sischen Sprache, die in Ostfriesland mit Ausnahme der bis heute bestehenden sa­terfriesischen Sprachinsel schon zur Zeit der Hanse im Verlauf des 14. und 15. Jahr­hunderts weitgehend vom Niederdeutschen verdrängt worden war. Entsprechend begründete sich das ostfriesische Sonderbewusstsein eher  histo­risch-politisch als sprach­lich-kul­turell. Ostfriesisches Regionalbewusstsein und Preußenverehrung bzw. „Reichstreue“ stan­den kaum in einem Spannungsverhältnis zueinander.
 
Diese pri­märe Orientierung auf den übergeordneten Staatsverband kennzeichnet die regio­nale politische Elite bis heute. Man kann hier von einem typischen, in Westeu­ropa weit verbreiteten peri­pheren Integrations­muster sprechen, da (und solange) sich die gesamtstaatlichen Kanäle der Interessenvermitt­lung als vorteilhaft für Prestige, indivi­duellen Aufstieg und eine landsmann­schaft­lich geprägte Klientel-Politik erweisen: Ostfriesen waren und sind immer wieder in führenden politischen und ad­ministra­tiven Funktio­nen auf Landes- und Bundesebene zu finden. Und in dem "guten Draht" nach Hannover, Berlin oder Brüssel  wird in der Region eher ein Ausweis politischer Stärke als die Perpetuierung des regionalen Abhängigkeitsbewußtseins gesehen.  Diese Tradition erklärt die Gleichzeitigkeit kultureller Eigenständigkeit und (regional)politischer Abhängigkeit - ein Widerspruch, auf den bereits das Projekt Nr. 10 "Kultur und Region" des Europarates (vgl. unten) hingewiesen hat.
 
Der in der Rückschau so genannte erste Friesenkongress in Jever (Landkreis Fries­land!) von 1925 war offiziell eine „Zusammenkunft von Freunden friesischer Ge­schichte und Literatur“ (Steensen 2001: 9), aber doch schon so sehr von der er­starkten europäi­schen Volksgruppenbewegung geprägt, dass die friesische Sprache gegenüber der romantisierten gemeinsamen Stammesgeschichte an Dominanz ver­lor. Mit der faktisch erst 1956 wirksam gewordenen Ein­richtung eines Friesenrats und der Durchführung weiterer Friesenkon­gresse schuf sich die transnationale friesi­sche Bewegung Institutionen, die bis heute existieren. Dabei enthielt sich die friesi­sche Bewegung mit Ausnahme kleiner ethno­nationalisti­scher Fraktionen in West- und Nordfriesland (hier: „Friisk Foriining“, die eng mit den Organisationen der däni­schen Minderheit zusammenarbeitet) weitgehend politischer Arti­kulation, konnte aber gleichwohl von den Nationalsozialisten gezielt für Zwecke ihrer Besatzungspolitik in den Niederlan­den instrumentalisiert werden.
 
Schon 1952 fand in Nordfriesland wieder ein Friesenkongress statt. 1955 folgte in Aurich ein zweiter Kongress, auf dem das „Friesische Manifest“ mit einem deutlichen Bekenntnis zur europäischen Einigung unter föderalistischem Vorzeichen verab­schiedet wurde. 1956 wurde schließlich der Friesenrat neu gegründet, zu dessen 50jährigem Bestehen kürzlich sogar eine Sondermarke der Deutschen Post herausgegeben wurde.
 
Dem Friesenrat folgte 1999 der bewusst programmatisch umbenannte Inter­friesische Rat als eingetragener Verein, der sich heute als transnationaler Interessen­verband der drei Frieslande sieht. Dennoch überwiegt, wie die Interfriesische Er­klä­rung vom 5. Mai 2006 deutlich macht, unverändert eine sprachlich-kulturalistische Ausrichtung, die sich nur zögernd den aktuellen strukturpoliti­schen Problemen der drei friesischen Randregionen öffnet.
 
Während die Nord- und Westfriesen sich intensiv am Monitoring des europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten beteiligen, identifizie­ren sich die parteipolitisch gebundenen Repräsentanten der Ostfriesen anscheinend nur halbherzig mit diesem Rahmenübereinkom­men.
 
Umso vorbildlicher und in ein­schlägigen Kreisen europaweit bekannt ist dagegen die Arbeit der Ostfriesischen Landschaft unter den Auspizien der 1992 verabschie­deten und 1998 in Kraft getrete­nen Europäischen Charta der Regional- oder Minder­heiten­sprachen7). In deren Rah­men setzt das bereits Ende der 80er Jahre eingerichtete und hauptamt­lich besetzte Sprachförde­rungsbüro („Platt­dütskbüro“) eine kreative und moderne Kulturpolitik der regio­nalen Zwei­sprachigkeit von Niederdeutsch und Hochdeutsch um. Diese orien­tiert sich sprach­politisch an den Einsichten des kultursoziologischenProjekts Nr. 10 ‚Kultur und Re­gion’“ des Europa­rates (Wiss. Leiter: Prof. Michel Bas­sand, Lausanne; vgl. Bassand 1993) in dem die Ostfriesische Land­schaft in den 80er Jahren und Anfang der 90er Jahre aktiv mitarbeitete. 
 
Auch für die Sprachencharta werden regelmäßige Länderberichte an den Europarat gegeben. Ihnen folgen aber nur reduzierte Monitoring-Prozeduren, so dass das Bun­desinnenministerium mit der Ausnahme des nur in der Sprachencharta er­wähnten Niederdeutschen die Rahmenübereinkunft und die Sprachencharta als Ein­heit sieht. Sachlich ist gleichwohl eine nach Regional- und Minderheitensprachen unterschie­dene Förderpraxis kaum noch zu begründen.
 
Nordfriesen, Saterfriesen und plattdeutsche Ostfriesen beklagen sich gleichermaßen über eine von ihnen als unzureichend empfundene Förderung der beiden regionalen Sprachen. Das Land Nieder­sachsen hat z. B. das Schulwesen erst gar nicht aus dem Kata­log der Förderbereiche der Sprachencharta übernommen. Und für die Nordfrie­sen wir­ken sich die sehr restriktiven Formulierungen in Artikel 11 (Medien), 13 (Ver­waltung) und 14 (Schulwesen) des Rahmenübereinkommens negativ aus, die die Autonomie der Medien betonen und den amtlichen Gebrauch sowie die schulische Förderung von einer ausreichend ho­hen Nachfrage abhängig machen. Insbesondere das Bedarfskriterium wird von den Nordfriesen - ebenso übrigens von den Sorben - mit Ve­hemenz abgelehnt8), zumal sich das Bundesinnenministerium, wie bereits er­wähnt, in provo­zierender Deutlichkeit dagegen verwahrt, mit sei­nen Maßnahmen erst einen offen­kundig befürchteten, vor­her ggf. nicht vorhandenen Bedarf zu wecken (vgl. dazu auch Anm. 4).
 
Immerhin führten die Vorhaltungen der Nordfriesen, massiv unterstützt vom SSW, schon vor Beginn des Zweiten Zyklus des Umsetzungsmonitorings (2005 - 2007) dazu, dass im November 2004 vom Schleswig-Holsteinischen Landtag ein „Gesetz zur Förderung des Friesischen im öffentlichen Raum“ verabschiedet wurde.
 
Über das aus Landes- und Bundesmit­teln geförderte „Nordfriisk Instituut“, dessen Leiter qua Amt eine Honorarprofessur an der Universität Flensburg innehat, ist zu­dem genü­gend Professionalität gegeben, um die unter­schiedlichsten Quellen natio­naler und europäischer Projektförderung zu nut­zen.
 
 
2. 2   Sorben und Dänen
 
Übersichtlicher als bei den Friesen ist die Lage bei der dänischen Minderheit in Nord­schleswig und bei den Lausitzer Sorben/Wenden in Brandenburg und Sachsen.
 
In Schleswig-Holstein genießen die Friesen als „Volksgruppe“ und die Dänen als „nationale Minderheit“ Verfassungsrang (SchlHVerf, Art. 5 Nationale Minderheiten und Volksgruppen). Sie haben - auch hier bei freiem Bekenntnis, wie in § 3 des euro­päischen Rahmenübereinkommens - „Anspruch auf Schutz und Förderung“. Ihre „kulturelle Eigenständigkeit und … politische Mitwirkung“ werden von Staat und Ge­bietskörperschaften garantiert. 
 
Wesentlich umfassender noch als in Schleswig-Holstein sind allerdings die Schutz­bestimmungen in den Länderverfassungen von Brandenburg und Sachsen:
 
Artikel 5 der sächsischen Verfassung umschreibt zunächst allgemein die Rechte „na­tionaler und ethnischer Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit“ und betont die Achtung der „Interessen ausländischer Minderheiten, deren Angehörige sich recht­mäßig im Land aufhalten.“ In Artikel 6 werden dann in drei Absätzen die beson­deren Rechte der Sorben9) aufgeführt. Neben den allgemeinen kulturellen und sprachlichen Schutz­rechten wird hier erstmalig auch die Landes- und Kommunalpla­nung ver­pflichtet, die „Lebensbedürfnisse des sorbischen Volkes zu berücksichtigen“. Dabei sei „der deutsch-sorbische Charakter des Siedlungsgebietes der sorbischen Volks­gruppe …zu erhalten.“
 
Die brandenburgische Verfassung kodifiziert die Rechte der Sorben bzw. Wenden ebenfalls sehr ausführlich in den fünf Absätzen10) des Artikels 25. Während in der sächsischen Verfassung sowohl von den individuellen Angehörigen der sorbischen Volksgruppe als auch von den „Sorben“ bzw. des „sorbischen Volkes/Volksgruppe“ die Rede ist, spricht die brandenburgische Verfassung nur das Kollektivsubjekt des „sorbischen Volkes“ bzw. „der Sorben“ an, denen über die kulturellen Rechte hinaus auch eine „wirksame politische Mitgestaltung“ eingeräumt wird.
 
In beiden Beispielen wird die Anlehnung an die kollektivrechtliche Kodifizierung der sorbischen Minderheitsrechte in der DDR deutlich, die über den Einigungsvertrag Eingang in das deutsche Verfassungsrecht fand. Gleichwohl findet sich auch hier (z. B. in § 1 Sächsisches Sorbengesetz) die individualrechtliche Betonung des freien Bekenntnisses zu einer nationalen Minderheit, die weder bestritten noch nach­geprüft werden darf.
 
Bemerkenswert ist, dass sich beide Verfassungen vom Verdacht einer kulturalisti­schen Neutralisierung der Minderheitenrechte nach DDR-Praxis zu befreien suchen, indem kollektive Partizipations- und Gestaltungsrechte über den kulturellen Rahmen hinaus angesprochen werden.  
 
Dass diese allgemeinpolitischen Rechte in der Praxis auf enge Grenzen stoßen, zei­gen die Vorhaltungen der Sorben im ersten und zweiten Zyklus des Umsetzungsmo­nito­rings zum europäischen Rahmenübereinkommen: Die Zerstörung und Umsied­lung sorbischer Dörfer zugunsten des fortgesetzten Braunkohletagebaus in der Lau­sitz gilt staatlicherseits nicht als Bedrohung der Existenz- und Entfaltungsrechte der Sorben in einem ge­schlossenen Siedlungsgebiet. Und die Aufrechterhaltung sor­bischspra­chiger Schulen gerät immer wieder mit allgemeinen Bestimmungen zur Mindestgröße von Klassen und Schulformen in Konflikt.
 
Andererseits zeigt die vergleichsweise gute, vom Bund und den beiden Ländern Brandenburg und Sachsen gewährte jährliche Finanzierung der „Stiftung für das sor­bische Volk“ (Gründung: 1991, Rechtsfähigkeit seit 1998) mit über 15 Millionen Euro den politischen Willen zur Stützung der kulturellen Fortexistenz der ca. 25.000 Sor­bisch-Sprecher (ca. 60.000 Gebietsansässige identifizieren sich selbst als Sorben), obwohl es auch hier immer wieder Konflikte über die Mittelverwendung gibt.
 
Als Interessengruppe der Sorben tritt die Domowina auf. Sie ist ein 1912 gegründeter und nach ihrem Verbot 1937 im Mai 1945 neu gegründeter Dachverband der meisten sorbischen Gruppierungen und Vereine und arbeitet mit der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen sowie mit dem Europäischen Büro für Kleinsprachen (EBLUL: European Bureau for Lesser Used Languages) zusammen. In beiden Lan­desrundfunkanstalten ist das Sorbische in Radiosendungen täglich, im Fernsehen wöchentlich (hier nur halbstündig im Wechsel der Anstalten) präsent.
 
In Absetzung, wenn nicht Konkurrenz zur überparteilich agierenden Domowina wurde im März 2005 die „Wendische“ bzw. „Lausitzer Volkspartei“ (Serbska ludowa strona) gegründet, die sich eine genuin politische Interessenvertretung auf die Fahnen ge­schrieben hat und unter anderem auch gegen die Ausweisung neuer Tagebauge­biete auftritt.  
 
Vorbild dieser Neugründung war der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), der nach den Schleswig-Holsteinischen Landtagswahlen im Februar 2005 kurzzeitig als mögliches Zünglein an der Waage einer von ihm tolerierten rot-grünen Minderheits­regierung in die überregionalen Schlagzeilen kam. Auch hier zeigte sich in empörten öffentlichen Reaktionen11) sehr schnell, dass einer Regional- oder Minderheitenpartei in der politischen Kultur der Bundesrepublik nur ein sehr begrenztes Mandat für eine allgemeinpolitische Interessenvertretung zugestanden wird. In der Landespolitik ist der SSW als Vertretung der dänischen Minderheit und der sog. „nationalen Friesen“ gleichwohl sehr präsent und in allen landestypischen Politikfeldern als Konkurrenz zu den Bundesparteien profiliert. Unter dem Ende 2005 gewählten neuen Vorsitzenden Flemming Meyer wirkt sich diese Konkurrenz wieder stärker zu Lasten der SPD aus.
 
Politisch umstritten, rechtlich bisher aber vergeblich angefochten, ist die Entwicklung des SSW von einer Minderheitenpartei hin zu einer landesweit vertretenen, aber von der Fünfprozentklausel seit 1955 ausgenommenen Kleinpartei. Bei der Landtagswahl 2005 erhielt der SSW landesweit 3,6 % der Zweitstimmen, wobei fast die Hälfte die­ser Stimmen im Holsteinischen Landesteil errungen wurden, also nicht mehr der dä­nischen und („nationalen“) friesischen Minderheit zugeschrieben werden konnte. Dennoch wird der erstmalig in der Kieler Erklärung vom 26. September 1949 zuge­standene und dann in den „Bonn-Kopenhagener Erklärungen“ von 1955 festge­schriebene Grundsatz „Däne ist, wer sich als Däne bezeichnet“ bisher nicht in Frage gestellt. Auch hier zeigt sich erneut die bereits erwähnte, für Schleswig-Holstein typi­sche Akzeptanz einer individualrechtlichen Interpretation des Minderheitenschutzes, der hier allerdings zu massiven Vorteilen für den SSW führt.
 
Die politischen und kul­turellen Organisationen der dänischen Minderheit sind auch für viele Nicht-Dänen attraktiv! Und es ist kein Geheimnis, dass fehlende dänische Sprachkenntnisse keineswegs ein Hindernis für eine Mitarbeit in diesen Organisatio­nen ist. Immerhin wurden bisher nur in Schleswig, aber noch nicht in Holstein SSW-Kandidaten aufgestellt.
 

 

Fazit: Worüber weiter nachzudenken wäre

 
Es ist unbestritten, dass sich gerade in Grenz- und Randregionen trotz jahrhunder­telanger Verwirbelung bodenständiger Lebensweisen mit überregio­nalen Wirtschafts- und Kultureinflüssen bis heute durchaus „eigen-sinnige“ Besonderheiten in Lebens­stil, Werthaltungen, Einstellungen und Sprache erhalten konnten, die Auf­merksam­keit und Schutz beanspruchen können (vgl. Danielzyk / Krüger 1990; Gerdes 1995, 1999).
 
Diese Charakteristika entfalteten je­doch lange Zeit keine politische Wirksamkeit in der Form, dass ihre im Modernisierungsprozess zunehmende Pro­vinzialisierung in ein kollektives „ethnisches“ Minderheitenproblem umschlug. Entgegen den Progno­sen des sozialwissenschaftlichen mainstreams (vgl. z. B. Deutsch 1953; Lijphart 1977) wurden ethnische Identitäten in Westeuropa jedoch schon in den 1970er Jah­ren verstärkt „zur strategischen Wahl von Individuen, die unter anderen Umständen andere Gruppenzugehörigkeiten wählen würden12). Aber erst nach dem Zusammen­bruch der kommunistischen Zivil­theologie in Osteuropa entfaltete die Reethnisierung der Politik eine traumatisierende konfliktive und kriegerische Sprengkraft, die man ihr in Europa nicht mehr zugetraut hätte.
 
Die separatistische Eskalation in einigen westeuropäischen Regionen und die kriege­rische Zuspitzung ethnischer Konflikte in Osteuropa haben Ängste vor einer umfas­senden Irrationalisierung der Politik geweckt. Mit diesen Vorbehalten sehen sich auch Vertreter der Friesen, Dänen und Sorben immer wieder konfrontiert, wenn sie die Rechte des europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Min­derheiten für sich in Anspruch nehmen.  
 
Dabei wäre zu fragen, ob alle diese mit der Reethnisierungsthese erklärten politi­schen Konflikte unter ein und demselben Minderheitenbegriff zu subsumieren sind.
 
Festzuhalten ist jedenfalls: Minderheiten werden „gemacht“, sie sind kein per se existierendes soziales „Faktum“13). Ihr begriffsrealistisches Verständnis als Kollektiv­subjekte - „was benannt werden kann, existiert“ - verschleiert die Prozesse ihrer Entstehung und Mobilisierung, statt diese transparent zu machen.
 
Minderheitenpolitik als Politisierung kultureller differentiae (Gellner) ist histo­risch kon­tingent und von konkreten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontextbe­dingungen, Inter­aktionen und Konflikten abhängig - dies in einer Spannweite, die in Europa, wie wir heute sehen, von ethnonationalistischer Regression bis hin zur folklorisierten Defensive regionalkultureller Rückzugsgebiete reicht.
 
Auf individueller Ebene sind heute Extremfälle denkbar, in denen einerseits Indivi­duen vor ihren eth­nischen Be­zugsgruppen zu „schützen“ sind, andererseits sich der Minderheitenbegriff ange­sichts einer flexibel gehandhabten individuellen Identifika­tion mit unterschiedli­chen Bezugsgruppen verflüchtigt. Neben den offensichtlichen Abgrenzungs- und Ver­gleichbarkeitsschwierigkeiten entstehen hier zusätzliche An­wendbarkeitsprob­leme, für die ein juristisch kodifizierter Minderheitenschutz ein zu statisches Korsett bil­det.
 
Rechtsträger des menschenrechtlichen Minderheitenschutzes sind nicht Gruppen, sondern Individuen in ihrer Eigenschaft als Angehörige dieser Gruppen. Gleichwohl setzen die zu schützenden Rechte die Lebensfähigkeit der entsprechenden Bezugs­grup­pen voraus. Dem trägt das Rahmenüberein­kommen z. B. in Artikel 15 Rech­nung. Der Artikel verpflichtet die Ver­tragsparteien auf die Schaffung der „not­wendi­gen Voraussetzungen für die wirksame Teilnahme von Angehörigen nationaler Min­derheiten am kulturellen, sozialen und wirt­schaftlichen Leben und an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere denjenigen, die sie betreffen.“
 
Der Hinweis auf solche Partizipations­rechte beschreibt die Mehrzahl heutiger Min­derheitenprobleme präziser und unmittelbarer als die defensiven Dis­kriminierungs­ver­bote und kulturellen Schutz- und Entfaltungsrechte eines ausschließlich individual­rechtlich orientierten Minderheitenschut­zes.
 
Damit geraten neuere Ansätze der Minderheitendiskussion in das Blickfeld, die sich sukzessive von einem ethnischen bzw. essentialistischen Volksbegriff lösen und de­mokratische Partizipation und (re)integrierende Konfliktregelungen in den Mittelpunkt stellen. Zu nen­nen sind hier insbe­sondere das „complex power sharing“-Projekt des Eu­ropäischen Zentrums für Min­derheitenfragen (ECMI), Flensburg und das CAP-For­schungsprojekt "Eigenverantwortung und Autonomie der Regionen" der Ber­telsmann Stiftung (vgl. Meinert 2003).
 
Diese Ansätze gehen über die indi­vidu­alrechtlich orientierten Normen des interna­tionalen Minderheitenschutzes hinaus, inso­fern individuelle Schutz­rechte um kollek­tive Autonomisierungsstrategien und Entfaltungsrechte erweitert werden – bei­des allerdings vor dem Hinter­grund klarer de­mokratischer Repräsentationsregeln, die in essentialistischen Ansät­zen der traditionel­len Volksgruppenliteratur regelmäßig zu Gunsten einer mythischen, letztlich repressiven Ganzheitsvorstellung vernachlässigt wurden.
 
Vor dem Hintergrund der osteuropäischen Erfahrungen kommt der Ergebnisbericht des zitierten Bertelsmann-For­schungsprojekts zu der folgenden Aussage:
 
„Wenn es erst einmal zu Gewalt und Repression gekommen ist und/oder sich klare mit ei­nem bestimmten Gebiet verbundene Gruppenidentitäten herausgebildet haben, bietet die Etablierung responsiver Minderheitenrechte keine hinreichende Perspek­tive mehr. (…) Eine Lösungsperspektive bieten hier Autonomielösungen, die sich bei allen Unter­schieden in der Definition von Autonomie durch ein wesentliches Merkmal auszeichnen: Sie sollen zugleich die Integrität bestehender Staaten wahren (…) und der betreffenden Gruppe ein höheres Maß an Selbstbestimmung für die Bereiche ermöglichen, die sie unmittelbar betreffen. (…) Der inklusive Charakter regionaler Autonomielösungen zeich­net sich mithin dadurch aus, dass die Bürger eines Staates zugleich eine regionale und ein auf den gesamtstaatlichen Verband gerichtete Iden­tität entwickeln können.“ (Meinert 2003: 6)
 
Während diese Strategie in Osteuropa vielerorts, zuletzt im Kosovo, zu spät kam, kennzeichnet Autonomisierung durch Dezentralisierung, Regionalisierung oder Föde­ralisierung in Westeuropa schon seit den 80er Jahren die politischen Reaktionen auf den westeu­ropäischen Regionalismus. In der politischen Realität hat sich die Re­naissance des Regionalen hier aller­dings eher zu einem Regionalisierungschaos ausgewachsen.
 
Das bunte und unge­klärte Nebeneinander von Wirtschafts-, Metropol-, Netzwerk- oder cluster-Regionen, grenz­überschreitenden Regionen, Verwal­tungsre­gionen, Kulturregionen, Sprachregionen, Zweckverbands- und Planungs­regionen, EU-Struk­turförderungsge­bieten, Bundes­ländern, Provinzen, historischen Landschafts­verbän­den etc. hat seine Ursache in einer taktisch nivellierten und inflati­onären Ver­wendung des Regionsbe­griffs. In dieser Beliebigkeit spie­geln sich vor allem unter­schiedliche institutionelle Be­harrungskräfte und politische Interessen (ins­besondere bestehen­der Gebiets­körperschaften, staatlicher Verwaltungen und regionaler Politiker) sowie wi­der­sprüchliche Regionalisie­rungsvorstellun­gen. Diese paralysieren die regionale Hand­lungsebene eher als sie zu stärken.
 
Die Chancen der „Politik der dritten Ebene“ (Bullmann 1994) verlieren sich im patch­work des Projekt- und Konferenzregionalismus der europäischen und nati­onalen Fördertöpfe.
 
Zu suchen wäre nach einer verbindlicheren, zivilgesellschaftlich verankerten Form von Regionalisierung, die nicht ins Leere läuft oder sich radikalisieren muss, um Ge­hör zu finden. In einer zivilge­sellschaftlich fundierten Praxis von Regionalisierung könnte sich das regionale „Sozialkapital“ gemeinschaftlicher Traditionen und Wertori­entierungen mit politischer und wirtschaftlicher Mobilisierung in überschaubaren Handlungsräumen oberhalb der kommunalen Ebene verbinden (vgl. auch Sturm 2001: 31f).
 
"Region" ist dann allerdings ohne eine kulturelle Identitätskompo­nente nicht mehr denkbar. Regionale Identität aktualisiert sich hier im gemeinsamen Handeln, das durch die Gemeinsamkeit von Lebensgewohnheiten und Hintergrundüberzeu­gungen, über die sich die Akteure einer Region nicht jeweils neu verständigen müs­sen, er­leichtert wird.
 
Nur so wäre Regionalität mehr als ein "traditionalistisches" Relikt vormoderner Le­bens­zu­sam­men­hänge! Regionalität würde zu einem kontinuierlichen gesellschaftli­chen und politischen Verständi­gungsprozess, in dem es um Konsensbildung über Ziele und Wege einer weltoffenen, daher illusionslosen, möglichst eigenständi­gen und regionsverträgli­chen Regionalentwicklung geht.
 
Wir brauchen also ein interessen- und prozesspolitisch geprägtes Verständnis von regi­onalen oder nationalen Minderheiten (vgl. Keating/Loughlin 1997), bei dem die ins­besondere vor dem mittel- und osteuropäischen Hintergrund ge­wachsenen Be­fürch­tungen vor einer fort­schreitenden Ethnisierung der Politik durch eine kluge poli­tische Pra­xis der Subsidiarität (vgl. Bassand 1993) gegen­standslos gemacht werden.
 
1991 gelang es dem Verfasser immerhin, den damaligen Ministerpräsidenten Schrö­der in Aurich zu der folgenden programmatischen Aussage zu bewegen:
„Wir können als Land nicht nur gegenüber der Bundesregierung und der EG-Kom­mission die volle Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes einfordern. Wir müssen im Sinne eines wohlverstandenen Binnenföderalismus das gleiche im Verhältnis der Landesregierung und der Landesverwaltung zu den örtlichen Organisationen gelten lassen.“
 
Den Regionen werden solche Subsidiaritätsbekenntnisse von Landespolitikern nicht hinterhergetragen. Sie sind selbst dafür verantwortlich, dass solchen Worten auch Taten folgen! Dies setzt eine konsistente Politik regionaler Interessenvertretung statt parteitaktischer Opportunismen voraus.
 

 

Anmerkungen

 1) Bezeichnung seit 1998 (eingetragener Verein seit 1999), früher: Friesenrat, Dach­organisation von West-, Ost- und Nordfriesen, gegr. 1930; Neugründung 1956. Der Vorsitz wechselt alle drei Jahre zwischen den drei Sektionen. Von 2006 bis 2009 liegt er bei der Sektion Ost, die neben Ostfriesland auch historische friesische Gebiete im Oldenburger Land, darunter das friesischsprachige Saterland, vertritt. Die Geschäftsführung wird von 2006 bis 2009 von der Ostfriesischen Land­schaft, Körperschaft des öffentlichen Rechts, gestellt. Das Saterland hat eine eigene Interessenvertretung im Seelter Buund.

2) Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland zu der Stellungnahme des Bera­tenden Ausschusses zu dem Bericht über die Umsetzung des Rahmenübereinkom­mens zum Schutz nationaler Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland, Ber­lin: Bundesministerium des Innern, Juli 2002, S. 7

3) Vgl. den Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 40 des Interna­tionalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Sept. 2002, S. 127ff

4) Hierzu detailliert Gerdes 1980a. Vgl. auch den Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 40 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Sept. 2002, S. 131: „Die Bundesrepublik Deutschland geht davon aus, dass Artikel 27 des Pakts nicht das Recht weiterer geschützter Minderheiten enthält, eben­falls als nationale Minderheiten anerkannt zu werden. Sie bezieht sich dabei auf die Materia­lien zum Pakt (Travaux Préparatoires) und den Abschlussbericht vom 1. Juli 1955 (A/2929), wo es heißt: ‘The provisions concerning the right of minorities, it was understood, should not be applied in such a manner as to encourage the creation of new minorities or to obstruct the process of assimilation. (…) such rights may not be interpreted as entitling any groups set­tled in the territory of a State, particularly under the terms of immigration laws, to form within that State separate communities which might impair its national unity or security.’ (A/2929, S. 63, § 186)”

5)  Artikel 10:

1.     Die Vertragsparteien verpflichten sich anzuerkennen, daß jede Person, die einer nationa­len Minderheit angehört, das Recht hat, ihre Minderheitensprache privat und in der Öffentlichkeit mündlich und schriftlich frei und ungehindert zu gebrauchen.

2.      In Gebieten, die von Angehörigen nationaler Minderheiten traditionell oder in beträchtli­cher Zahl bewohnt werden, bemühen sich die Vertragsparteien, sofern die Angehörigen dieser Minderheiten dies verlangen und dieses Anliegen einem tatsächlichen Bedarf entspricht, soweit wie möglich die Voraussetzungen dafür sicherzustellen, daß im Ver­kehr zwischen den Angehörigen dieser Minderheiten und den Verwaltungsbehörden die Minderheitensprache gebraucht werden kann.

3.     (….)

 

 Artikel 14:

1.      Die Vertragsparteien verpflichten sich anzuerkennen, daß jede Person, die einer nationa­len Minderheit angehört, das Recht hat, ihre Minderheitensprache zu erlernen.
2.      In Gebieten, die von Angehörigen nationaler Minderheiten traditionell oder in beträchtli­cher Zahl bewohnt werden, bemühen sich die Vertragsparteien, wenn ausreichende Nachfrage besteht, soweit wie möglich und im Rahmen ihres Bildungssystems sicher­zustellen, daß Angehörige dieser Minderheiten angemessene Möglichkeiten haben, die Minderheitensprache zu erlernen oder in dieser Sprache unterrichtet zu werden.
3.      Absatz 2 wird angewendet, ohne daß dadurch das Erlernen der Amtssprache oder der Unterricht in dieser Sprache berührt wird.
 

6)     Sydslesvigsk Forening/Südschleswigscher Verein (SSF)

         Sydslesvigsk Vaelgerforening/Südschleswigscher Wählerverband (SSW)
         Domowina - Bund Lausitzer Sorben
         Friesenrat/Frasche Rädj - Sektion Nord e.V.
         Friesenrat/Freeske Raad - Sektion Ost e.V.
         Seelter Buund
         Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
         Sinti Allianz Deutschland
 
7)   Die „Sprachencharta“ verpflichtet die Staaten unter bestimmten Kautelen Bil­dungsangebote von der vorschulischen Erziehung über die Regelschulen bis hin zu den Universitäten unter Einschluss der Fort- und Weiterbildung in den Minderheiten- oder Regional­sprachen anzubieten, Gerichtsverfahren in diesen Sprachen zu ermög­lichen bzw. Dolmetscher anzubieten, den Gebrauch der Minderheiten- und Regional­sprachen auch für Verwaltungsakte, im Wirtschaftsleben und sozialen Einrichtungen sowie in den öffentlichen Medien sicherzustellen und kulturelle Einrichtungen von Bibliotheken bis hin zu Kinos und entsprechende Literatur- und Filmproduktionen zu fördern.
 
8)   Vgl. Ingwer Nommensen in seinem Kommentar zu der Stellungnahme der Bun­desrepublik Deutschland von 2002 (vgl. Anm. 2), S. 48: „Der Friesenrat (erg.: Sek­tion Nord) stellt fest, dass eine Definition eines bedarfsgerechten Gebrauches einer Min­derheitensprache den nationalen Minderheiten selbst überlassen bleiben muss. (…) In keinem Fall dürfen Wünsche der nationalen Minderheiten deshalb abgewiesen werden, weil sie in einem bestimmten Gebiet nur von einer kleinen Gruppe ange­strebt werden und somit von offizieller Seite ein Bedarf negiert wird. (…).“ Das In­nenministerium hatte in der kritisierten Stellungnahme unter anderem geschrieben: „Die Verpflichtungen aus dem Rahmenübereinkommen werden dahin verstanden, dass entsprechende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen sind, bei Bestehen mentaler Schranken gegebenenfalls zum bedarfsgerechten Gebrauch der sorbischen Sprache zu ermutigen ist, dass aber nicht auf die Erweckung gar nicht vorhandener Wünsche auszurichten ist.“

9)   (1) Die im Land lebenden Bürger sorbischer Volkszugehörigkeit sind gleichberechtigter Teil des  Staatsvolkes. Das Land gewährleistet und schützt das Recht auf Bewahrung ih­rer Identität sowie auf Pflege undEntwicklung ihrer angestammten Sprache, Kultur und Überlieferung, insbesondere durch Schulen, vorschulische und kulturelle Einrichtungen.
 

      (2) In der Landes- und Kommunalplanung sind die Lebensbedürfnisse des sorbischen Volkes zu berücksichtigen. Der deutsch-sorbische Charakter des Siedlungsgebietes der sorbischen Volksgruppe ist zu erhalten.

(3) Die landesübergreifende Zusammenarbeit der Sorben, insbesondere in der Ober- und Niederlausitz, liegt im Interesse des Landes.

 10)     (1) Das Recht des sorbischen Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege seiner nationalen Identität und seines angestammten Siedlungsgebietes wird gewährleistet. Das Land, die             Gemeinden und Gemeindeverbände fördern die Verwirklichung dieses Rechtes, insbe­sondere die kulturelle Eigenständigkeit und die wirksame politische Mitgestaltung des             sorbischen Volkes.

            (2) Das Land wirkt auf die Sicherung einer Landesgrenzen übergreifenden kulturellen Autonomie der Sorben hin.

    (3) Die Sorben haben das Recht auf Bewahrung und Förderung der sorbischen Sprache und Kultur im  öffentlichen Leben und ihre
     Vermittlung in Schulen und Kindertagesstätten.


    (4) lm Siedlungsgebiet der Sorben ist die sorbische Sprache in die öffentliche Beschrif­tung einzubeziehen. Die sorbische Fahne hat
     die Farben Blau, Rot, Weiß.
 
    (5) Die Ausgestaltung der Rechte der Sorben regelt ein Gesetz. Dies hat sicherzustellen, dass in Angelegenheiten der Sorben,
insbesondere bei der Gesetzgebung, sorbische Vertreter mitwirken.
 
11)   Vgl. u.a. D. Murswiek: „Das mißbrauchte Privileg“. In Focus 10/2005. Samuel Salzborn: Zwischen     Homogenitätsdruck, (Selbst-)Ethnisierung und Segregation. Minderheitenpolitik in Deutschland. In: Salzborn 2006, S. 121-137, hier: S. 121 ff 
 
12)    Daniel Bell, Ethnicity and Social Change. In: Glazer/ Moynihan (Hrsg.) 1975, S. 171
 
13)   Selbst Ethnologen sind längst von ihrer herkömmlichen Lehrmeinung einer „ob­jektiven überindividuellen Realität“ ethnischer Gruppierungen abgerückt: „Als Ge­schöpfe ihrer Geschichte und Traditionen wurden ethnische Gruppen lange Zeit als weitgehend unveränderliche, ja sogar als urspüngliche (primordial) Kräfte angese­hen. Heute vertreten die meisten Forscher ethnischer Beziehungen nicht mehr die Lehrmeinung von der sogenannten ‘eindeutig objektiven Realität’ ethnischer Grup­pen und ethnischen Konflikts. Die langsam sich durchsetzende Sichtweise betont das Fließende und die Variabilität ethnischer Identitäten und Beziehungen.“ (Horo­witz: 1977, S. 7; Übersetzung: D. G.)
 
 
Zitierte Literatur
 
Michel Bassand: Culture and Regions of Europe. Strasbourg: Council of Europe, 1993
Udo Bullmann (Hrsg.) 1994: Die Politik der dritten Ebene. Regionen im Europa der Union. Baden-Baden: Nomos
Rainer Danielzyk/Rainer Krüger: Ostfriesland: Regionalbewußtsein und Lebensfor­men. Oldenburg 1990
Karl W. Deutsch: Nationalism and Social Communication. An Inquiry into the Founda­tions of Nationality. New York/ London 1953
Dirk Gerdes: Minderheitenschutz - eine internationale Rechtsnorm auf der Suche nach ihrem Gegenstand. In: Vereinte Nationen, Heft 4/1980 (a)
Dirk Gerdes: Frankreich - "Vielvölkerstaat" vor dem Zerfall? In: APuZ, B12, 22. März 1980 (b)
Dirk Gerdes: Regionalismus als soziale Bewegung. Westeuropa, Frankreich, Korsika: Vom Vergleich zur Kontextanalyse. Mit einem Vorwort von Thomas Luckmann. Frankfurt a.M./New York 1985
Dirk Gerdes: Regionale Kultur als Entwicklungsfaktor. In: Neues Archiv für Nieder­sach­sen, Heft 1,1995
Dirk Gerdes: Regionalismus in Europa. Bilanz und Perspektiven. In: Ansgar Klein, Hans-Josef Legrand, Thomas Leif (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen. Impulse, Bi­lanzen und Perspektiven. Opladen/Wiesbaden 1999
Nathan Glazer/ Daniel P. Moynihan (Hrsg.): Ethnicity - Theory and Experience, Har­vard Univ. Press 1975
Donald L. Horowitz: Cultural Movements and Ethnic Change. In: The Annals, Vol. 433, Sept. 1977
Michael Keating / John Loughlin: Introduction. In: Dies. (Hrsg.): The Political Econ­omy of Regionalism. London 1997, 1-13
Arend Lijphart: Political Theories and the Explanation of Ethnic Conflict in the West­ern World: Falsified Predictions and Plausible Postdictions. In: Esman, Milton J. (Hrsg.): Eth­nic Conflict in the Western World. Ithaca/London 1977
Sascha Meinert: Zwischen staatlicher Integrität und gesellschaftlicher Vielfalt: Regio­nale Autonomie als Lösungskonzept für multinationale Staaten. Ergebnisbericht zum Koope­rationsprojekt der Bertelsmann Stiftung und der Bertelsmann Forschungs­gruppe Politik am Centrum für angewandte Politikforschung „Eigenverantwortung und Autonomie der Regionen“. München 2003
Samuel Salzborn: Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgrup­pen­rechts in Europa. Frankfurt a.M./New York 2005
Samuel Salzborn (Hrsg.): Minderheitenkonflikte in Europa. Fallbeispiele und Lö­sungsansätze. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien Verlag 2006
Thomas Steensen: Zur Geschichte der interfriesischen Beziehungen. In: Interfriesi­scher Rat e. V. (Hrsg.): Die Friesen - ein Volk für sich? Beiträge über Geschichte, Sprache und Gegenwart zum Friesenkongreß 2000 in Jever/Friesland. Aurich 2001, 9 - 20
Thomas Steensen et al.: Die Frieslande. Bredstedt: Verlag Nordfriisk Institut 2006
Manfred Straka (Hrsg.): Handbuch der europäischen Volksgruppen. Wien/Stuttgart 1970
Roland Sturm: Die Entgrenzung des politischen Raumes. Politik und Bürger auf der Suche nach „Heimat“. In: Politische Studien, Heft 378, Juli/August 2001, 23-32
Theodor Veiter: Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht im 20. Jahrhundert. München 1977